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Vermögensverzehr für Unterhaltszahlungen

Vermögensverzehr für Unterhaltszahlungen

Rechtsprechung
Eheschutz
Unterhaltsrecht

Vermögensverzehr für Unterhaltszahlungen

BGE 147 III 393

I. Sachverhalt

Die Eheleute haben 1999 geheiratet. Aus der Ehe sind zwei Kinder hervorgegangen, Jahrgang 2006 und 2008. Am 1. Januar 2014 trennten sich die Eheleute. Die Ehefrau war zu dem Zeitpunkt 45, der Ehemann 46 Jahre alt. Das Bezirksgericht regelte mit Entscheid vom 28. September 2015 das Getrenntleben. Es stellte die Kinder unter die Obhut der Mutter, regelte Besuchs- und Ferienrecht des Vaters, wies der Mutter die eheliche Liegenschaft, dem Vater das eheliche Fahrzeug zu und verpflichtete ihn für die Dauer des Getrenntlebens zu Unterhaltszahlungen an Ehefrau und Kinder. Das von beiden Parteien angerufene Luzerner Kantonsgericht reduzierte die Unterhaltsbeiträge mit Entscheid vom 28. Juli 2016. Daraufhin gelangten beide Parteien ein erstes Mal ans Bundesgericht, welches die Beschwerde am 18. Mai 2017 wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs guthiess und die Sache zurück ans Kantonsgericht schickte. Dessen Entscheid vom 23. Mai 2018, mit dem es neue, angepasste Unterhaltsbeiträge für Ehefrau und Kinder festsetzte, zogen wiederum beide Parteien am 11. Juli 2018 ans Bundesgericht weiter.

Dieses vereinigte die Verfahren und heisst beide Beschwerden teilweise gut.

II. Erwägungen

1. Zumutbarkeit des Vermögensverzehrs

Der Vater wendet zur Hauptsache ein, das Kantongericht habe ihn zu einen unzumutbaren Vermögensverzehr verpflichtet. Um diesen Einwand zu behandeln, ruft das Bundesgericht die Voraussetzungen für die Zumutbarkeit des Vermögensverzehrs in Erinnerung:

Unterhalt ist aus dem laufenden Einkommen zu decken (Erwerbseinkommen und Vermögensertrag). Nur ausnahmsweise darf auf die Substanz des Vermögens zugegriffen werden, falls die Mittel für die Deckung des Unterhalts sonst nicht ausreichen (E. 6.1.1). In welchem Umfang auf das Vermögen zugegriffen werden darf, muss anhand des Einzelfalls entschieden werden. Zu berücksichtigen sind dabei

  • die Bedeutung des anzuzehrenden Vermögens,
  • dessen Funktion und Zusammensetzung,
  • das Ausmass des Vermögensverzehrs, sowohl hinsichtlich Umfang als auch Dauer,
  • das Verhalten, das zur Herabsetzung der Eigenversorgungskapazität geführt hat.

Wird das Vermögen eines Ehegatten angezehrt, muss auch jenes des anderen angetastet werden, ausser dieser hat keines (E. 6.1.2).

Angezehrt werden kann in erster Linie liquides Vermögen, sowohl der Errungenschaft als auch des Eigenguts, wobei prioritär auf Errungenschaftsvermögen zuzugreifen ist. Schwer liquidierbares Vermögen oder solches, das in die Familienwohnung investiert ist, darf nicht berücksichtigt werden (E. 6.1.3).

Ferner darf auf Vermögen, welches für das Alter angespart worden ist, zurückgegriffen werden. Es spricht aus Sicht des Bundesgerichts nichts dagegen, das genau zu diesem Zweck gesparte Vermögen für die Sicherstellung des Unterhalts der Eheleute nach der Pensionierung einzusetzen. Immer unberücksichtigt bleiben muss hingegen durch Erbschaft erworbenes Vermögen (E. 6.1.4).

Zumutbar ist der Vermögensverzehr «klassischerweise» dann, wenn die Eheleute ihre Lebenshaltung aus dem Vermögen finanziert haben (E. 6.1.5).

Die weiteren Beurteilungskriterien sind voneinander abhängig und je nach den konkreten Umständen des Einzelfalls von unterschiedlicher Bedeutung. So hat die Grösse des Vermögens Einfluss einerseits auf die Höhe des zumutbaren Vermögensverzehrs und andererseits auf die Höhe des zu deckenden Unterhalts. Das Bundesgericht stellt klar, dass es keinen vorbehaltlosen Anspruch auf Beibehaltung des zuletzt gemeinsam gelebten Standards gibt und dieser gegebenenfalls herabgesetzt werden kann. In einer Mankosituation kann zur Deckung des betreibungsrechtlichen Existenzminimums (Grundbedarf) auf das Vermögen zugegriffen werden, selbst wenn die Ersparnisse nicht besonders gross sind. Je nach Höhe des Vermögens kann dieses zur Deckung des familienrechtlichen Existenzminimums oder aber des über das familienrechtliche Existenzminimum hinausgehenden gebührenden Unterhalts herangezogen werden (E. 6.1.6).

Zum anderen sind die Grösse des Vermögens und die Höhe des zugemuteten Vermögensverzehrs ins Verhältnis zur (voraussichtlichen) Dauer des letzteren zu setzen. Je kürzer die Dauer des zugemuteten Vermögensverzehrs, desto höher kann der monatlich dem Vermögen zu entnehmende Beitrag sein. Allenfalls darf auch einmalig auf das Vermögen gegriffen werden, namentlich um damit in der Vergangenheit angefallene, aber unbezahlt gebliebene Unterhaltsbeiträge auszugleichen. Die Rechtsprechung liefert keine allgemeingültigen Vorgaben für die Berechnung der Höhe des (zumutbaren) Vermögensverzehrs. Einzig wenn es um Ehegatten im vorgerückten Alter geht, die sich in einer Mankosituation befinden, hat es das Bundesgericht als zulässig erachtet, zu verlangen, dass – nach dem Vorbild der Ergänzungsleistungen zur AHV/IV - jährlich ein Zehntel des Reinvermögens, das eine Freigrenze übersteigt, verbraucht werde (E. 6.1.7).

Zusammenfassend hält das Bundesgericht fest, dass das Gericht beim Umfang des Vermögensverzehrs auf sein Ermessen verwiesen ist (E. 6.1.8).

Gestützt auf die Erwägungen kommt das Bundesgericht zum Schluss, dass sich die Beschwerde des Vaters aus drei Gründen als begründet erweist:

  1. Erbschaftsvermögen ist nie anzuzehren. Soll von diesem Grundsatz abgewichen werden, obliegt es der Partei, die das möchte, zu begründen, dass ein Ausnahmefall vorliegt und es doch zulässig ist. Solange das nicht geschehen ist, ist auch die Vermögenshöhe irrelevant. Vorliegend waren von den CHF 4.2 Mio. nur ca. CHF 60‘000 Errungenschaft. Das Kantonsgericht erwog, es sei sachgerecht,  bei den gegebenen Verhältnissen auf das Eigengut, d.h. die Erbschaft, zurückzugreifen. Dem erteilt das Bundesgericht eine Absage, da das Kantonsgericht ohne sachlich haltbare Gründe von der konstanten und klaren bundesgerichtlichen Rechtsprechung abgewichen ist. Damit ist das Kantonsgericht in Willkür verfallen (E. 6.3.1).
  2. Das Bundesgericht erklärte es für unhaltbar, im vorliegenden Fall an die Ergänzungsleistungen zur AHV/IV anzuknüpfen. Das dürfe nur geschehen, wenn das Vermögen für die Zeit nach der Pensionierung angehäuft wurde, die Eheleute bereits pensioniert sind und sie in einer Mankosituation leben, sodass der Vermögensverzehr der Deckung des Grundbedarfs dient. Diese Voraussetzungen waren vorliegend nicht gegeben (E. 6.3.2).
  3. Schliesslich muss der Vater auch seinen eigenen Lebensunterhalt decken. Diesen Aspekt hat das Kantonsgericht augenscheinlich übersehen. Der Bedarf des Vaters beträgt gemäss Kantonsgericht CHF 5‘500 pro Monat. Das Kantonsgericht hat auch festgestellt, dass er abgesehen vom Vermögensertrag seit Oktober 2016 kein Einkommen hat. Mit dem zugesprochenen Unterhalt bestritt er folglich seinen eigenen Lebensunterhalt von dem Zeitpunkt an vollständig aus seinem Vermögens. Das ist willkürlich (E. 6.3.3).

2. Weitere Rügen (nicht publiziert in BGE 147 III 393)

Die formelle Rüge des Vaters, das Kantonsgericht habe sich nicht die Vorgaben im Rückweisungsentscheid des Bundesgerichts halten, verwirft das Bundesgericht. Das Kantonsgericht hat im Rahmen des Zurückgewiesenen zu Recht neue Tatsachenvorbringen zugelassen. Es war somit nicht willkürlich, dass das Kantonsgericht von einem grösseren Vermögen, einem höheren Vermögensertrag und einer schlechteren Beurteilung der Bemühungen des Vaters bei der Suche einer Erwerbstätigkeit ausgegangen ist (E. 5.2.2). Für das Bundesgericht war folglich verbindlich festgestellt, dass der Vater im 2015 über ein flüssiges Vermögen von CHF 4.2 Mio. und einen jährlichen Vermögensertrag von 1 % bzw. CHF 40‘000 verfügt (E. 5.3).

Das Bundesgericht stellt ferner fest, dass das Kantonsgericht falsches Übergangsrecht angewendet hat. Es hätte für den Zeitraum bis Ende 2016 das damals geltende Unterhaltsrecht anwenden müssen, nicht jenes, das am 1. Januar 2017 in Kraft getreten ist (E. 7.4).

Als obiter dictum hält das Bundesgericht zudem fest, dass das Kantonsgericht wegen der im Ehegattenunterhalt geltenden Dispositionsmaxime diesen nicht einfach kürzen dürfe, nur weil die Kindesunterhaltsbeiträge höher ausgefallen sind als beantragt und damit die Summe der geforderten Unterhaltsbeiträge inklusive Ehegattenunterhalt übersteigen würde. Das Gericht bleibt an die Anträge der Parteien gebunden (E. 9.2).

Schliesslich erwägt das Bundesgericht, dass es die "45er-Regel" im Februar 2021 für den nachehelichen Unterhalt gekippt hat. Dies gelte auch für den Ehegattenunterhalt, d.h. für die Dauer des Getrenntlebens. Es sei daher nicht von vornherein unzumutbar, der nunmehr 54-jährigen Mutter ein hypothetisches Einkommen anzurechnen (E. 10).

iusNet FamR 27.08.2021

Urteile 5A_582/2018, 5A_588/2018 (vereinigt) als BGE 147 III 393 publiziert