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Nachehelicher Unterhalt

Nachehelicher Unterhalt

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Nachehelicher Unterhalt

Die neue Rechtsprechung im Praxistest

Die Aufgabe der starren «45er-Regel» und die Regel, wonach eine 10-jährige Ehe immer als lebensprägend gilt, ist grundsätzlich begrüssenswert. Dies eröffnet die Möglichkeit, tatsächlich den Einzelfall zu betrachten, statt diesen von vornherein zu kategorisieren. Auch wenn das Bundesgericht betont, Richtlinien dürften nicht schematisch angewendet werden (BGE 147 III 249 E. 3.4.3), sieht das in der Praxis oft anders aus. Einzelfallentscheide machen den Gerichten die Arbeit zwar schwerer und der Anwaltschaft die Arbeit zahlreicher, dafür dürfte es die Akzeptanz der Urteile bei den Betroffenen erhöhen. 

Dies zumindest dem Grundsatz nach. Denn die Urteile geben auch zu Fragen Anlass. Ist es gerechtfertigt, den Lebensplan der Eheleute zu bewerten und daran rechtliche Folgen zu knüpfen? Ist es realistisch, mit über 50 Jahren in den Arbeitsmarkt einzusteigen? Wie hoch soll der Unterhalt sein und wie lange soll er gezahlt werden? Wer zahlt, wenn nicht der leistungsfähige Ehegatte? Der vorliegende Fachbeitrag nimmt die Fragen genauer unter die Lupe und versucht sich, wenn nicht in einer Antwort, in einem Lösungsansatz. Die Systematik folgt der vom Bundesgericht aufgestellten Kaskade für die Prüfung der nachehelichen Unterhaltsberechtigung (BGE 147 III 249 E. 3.4.2 ff.).

  1. Lebensprägung

Bei lebensprägender Ehe wird das Vertrauen in den Fortbestand der Ehe bzw. den Weiterbestand der bisherigen, frei vereinbarten Aufgabenteilung objektiv geschützt. Artikel 125 ZGB gibt den Ehegatten dabei den Anspruch auf Fortführung des zuletzt gelebten gemeinsamen Standards (BGE 147 III 249 E. 3.4.1). Das ist gemäss Bundesgericht dann gerechtfertigt, wenn der eine Ehegatte aufgrund eines gemeinsamen Lebensplanes sein Erwerbsleben und damit seine ökonomische Selbständigkeit aufgegeben hat und nach der Trennung nicht mehr an die frühere berufliche Stellung anzuknüpfen oder einer den gleichen ökonomischen Erfolg versprechenden Erwerbstätigkeit nachgehen kann (BGE 147 III 249 E. 3.4.3). Dann ist die Ehe lebensprägend. Jetzt aber macht das Bundesgericht eine entscheidende Einschränkung: Das gilt nur, wenn die Erwerbstätigkeit für Haushaltsführung und Kindererziehung aufgegeben wurde (BGE 147 III 249 E. 3.4.3). Ohne Lebensprägung ist der voreheliche Standard geschuldet, so als wäre die Ehe nie geschlossen worden (BGE 147 III 249 E. 3.4.1).

Warum der Inhalt des gemeinsamen Lebensplanes und die damit einhergehende Aufgabenteilung für die Lebensprägung entscheidend ist, führt das Bundesgericht nicht aus. Dies wäre aber interessant gewesen, denn damit wird höchstrichterlich entschieden, dass die einen Lebenspläne schützenswerter sind als die anderen. Als Folge droht die Plafonierung des Unterhaltsbeitrags auf dem vorehelichen Niveau. Es darf die Frage gestellt werden, warum nur die eigene Kindererziehung ein schützenswerter Lebensplan sein soll. Wenn die Eheleute gemeinsam entscheiden, dass sie als Chefärztin arbeitet und er ehrenamtlich Alten, Kranken oder Geflüchteten hilft, wäre das für die Gesellschaft kaum weniger Wert. Wenn er keine Kinder zeugen kann oder die Eheleute nach mehreren Fehlgeburten den Kinderwunsch aufgeben, warum sollen sie dann nachehelich nicht gleich behandelt werden wie andere Eheleute? Artikel 125 ZGB macht keinen Unterschied zwischen Eheleuten mit Kindern und ohne Kinder. Es bleibt unklar, warum die Bundesrichter an dieser Unterscheidung festhalten.

Haben die Eheleute den Lebensplan gemeinsam geschmiedet, war dies ihr eigener und freier Wille, und haben sie diesen hernach gelebt, erscheint es mir fragwürdig, an den Inhalt rechtliche Folgen zu knüpfen. Es ist eine Wertungsfrage, derer sich das Gericht meiner Ansicht nach enthalten sollte. Ob der Lebensplan Einfluss auf die (wirtschaftliche) Lebensprägung hat, und nur darum geht es bei der Unterhaltsberechtigung, ist letztlich eine Frage der Eigenversorgungsfähigkeit. Das Bundesgericht sollte nicht jenen Ehegatten schützen, der den Lebensplan fristlos aufkündigt. Das tut es aber, wenn es erwägt, bereits ab dem Trennungszeitpunkt gelte das Primat der Eigenverantwortung (BGE 147 III 249 E. 3.4.4). Wertungsfreie Ergebnisse liessen sich meines Erachtens mittels Übergangsfristen, mithin unter dem Titel der Angemessenheit des Unterhalts herbeiführen. Unterhalt muss verhältnismässig sein, sowohl für den Verpflichteten als auch die Berechtigte. Über eine Bewertung des Lebensplanes lässt sich dies kaum erzielen.

  1. Eigenversorgungsfähigkeit

Selbst wenn die Lebensprägung bejaht wird, führt dies nicht automatisch zu einem Anspruch auf nachehelichen Unterhalt. Ab dem Zeitpunkt der Scheidung – nach der Rechtsprechung sogar ab dem Zeitpunkt der Trennung, falls keine Aussicht auf Wiedervereinigung besteht – gilt das Primat der Eigenversorgung. Das Bundesgericht erwägt, dass Erwerbstätigkeit immer zumutbar ist, wenn sie tatsächlich möglich ist. Alter ist kein Unzumutbarkeitsgrund mehr, ausser man ist der Pensionierung naher (BGE 147 III 308 E. 5.6). Das Bundesgericht hat diese Rechtsprechung seit dem erwähnten richtungsweisenden Entscheid bereits bestätigt und es als nicht willkürlich erachtet, einer 54-jährigen, bis zur Trennung nicht berufstätigen, Mutter ein hypothetisches Einkommen anzurechnen (BGE 5A_582/2018, 5A_588/2018 E. 10). So schützte das Bundesgericht in BGE 147 III 308 auch die Einschätzung des Kantonsgerichts Solothurn, als über 50-Jährige mit jahrzehntelanger Abwesenheit vom Arbeitsmarkt könne die Mutter eine Stelle im Gastgewerbe, Detailhandel und der Pflege ergattern und dann noch in einem moderaten Teilzeitpensum von 30 – 60 Prozent. Es ist zu hoffen, dass dies im Kanton Solothurn tatsächlich der Fall ist.

Für viele ist oftmals das Gegenteil der Fall. Arbeitnehmende über 50 Jahre haben schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt, sind sie aufgrund des hohen Pensionskassenbeitrags, den der Arbeitgeber zahlen muss, und der baldigen Pensionierung, mit der sie den Betrieb wieder verlassen, doch vergleichsweise unattraktiv. Dies bestätigt die Statistik für die gesamte Schweiz: Gemäss Bericht des SECO „Ältere Arbeitslose (50+) 2019“ machten im Jahr 2018 die über 50-Jährigen 30 Prozent aller Arbeitslosen aus, davon waren ein Drittel Frauen. Arbeitslos ist aber nur, wer Taggelder der Arbeitslosenversicherung erhält. Dies ist nur dann der Fall, wenn man erwerbstätig war. Als arbeitslos gilt zudem nur, wer  nicht ausgesteuert ist. Von der Statistik nicht erfasst werden jene, die nach 20 Jahren Kindererziehung keine Anstellung finden. Dass die Attraktivität jener durch Abstinenz vom Arbeitsmarkt nicht steigt, dürfte notorisch sein.

Dazu kommt, dass Personen wie die Ehefrau aus BGE 147 III 308, die ein Informatikstudium abgeschlossen hatte, wohl ihre Gründe hatten, nicht im Detailhandel, Gastgewerbe oder der Pflege angeheuert zu haben. Es sind Knochenjobs mit einem hohen Stresslevel, die eine Menge Empathie erfordern. Insbesondere in der Pflege muss man mit viel Leid umgehen können, was absolut nicht jedermanns Sache ist. Schliesslich konkurrieren diese Frauen um die ohnehin rar gesäten Teilzeitstellen mit den jungen Menschen.

Das Bundesgericht spricht vom Vorrang der Eigenversorgungsfähigkeit und von der Endlichkeit der nachehelichen Solidarität (BGE 147 III 308 E. 5.2; BGE 147 III 249 E. 3.4.4). Beides ist zutreffend. Doch erscheint der Massstab, den das Bundesgericht an die Eigenversorgungsfähigkeit anlegt, streng, während die Entlassung aus der nachehelichen Solidarität einfacher von der Hand zu gehen scheint. Die Gefahr dieser Rechtsprechung liegt in der Überwälzung des Kostenrisikos auf die Allgemeinheit: Wird kein nachehelicher Unterhalt zugesprochen, obwohl der verdienende Ehegatte diesen leisten könnte, und erzielt der andere Ehegatte nicht das vorhergesagte Einkommen, wird er bedürftig. Die Kosten trägt die Allgemeinheit, entweder über die wirtschaftliche Sozialhilfe oder durch unentgeltlich geführte Abänderungsverfahren. Diese einseitige Bevorzugung des leistungsfähigeren Ehegatten ist angesichts des zu Unparteilichkeit verpflichteten Bundesgerichts überraschend.

Wenn Gerichte in die Glaskugel schauen und Voraussagen über Jobaussichten und hypothetisch erzielbare Einkommen machen, birgt dies ein grosses Risiko. Die Bundesgerichtsentscheide machen deutlich, dass sich niemand mehr auf dem früheren Leben ausruhen darf. In der Praxis dürfte das bedeuten, möglichst viele Bewerbungen auf echte Jobs zu versenden und bestenfalls einen „standesgemässen“ Job anzunehmen, um das Gericht auf dem Boden der Tatsachen zu halten.

  1. Angemessener Unterhalt
  1. Höhe

Bei Lebensprägung besteht Anspruch auf Beibehaltung des ehelichen Lebensstandards. Kann die Unterhaltsberechtigte mit dem tatsächlichen oder hypothetischen Einkommen diesen nicht selbst erreichen, ist nachehelicher Unterhalt geschuldet. Die Höhe müsste dann der Differenz des eigenen Einkommens und dem ehelichen Lebensstandard entsprechen. Das Bundesgericht erwägt aber, dass für die Angemessenheit alle in Art. 125 ZGB aufgeführten Kriterien gegeneinander abgewogen werden müssten (BGE 147 III 249 E. 3.4.5).

Ohne Lebensprägung besteht ein Recht auf den vorehelichen Standard. Der Ehegatte ist so zu stellen, wie wenn die Ehe nicht geschlossen worden wäre. Würde aber tatsächlich das negative Interesse als Massstab der Unterhaltshöhe genommen, müssten die Gerichte konsequenterweise auch eine Hochrechnung des damaligen Lebensstandards machen. Die Informatikstudentin aus BGE 147 III 308 wäre ohne Kinder über all die Jahre wohl kaum auf dem Lebensstandard einer Studentin verharrt. Auch ihr Einkommen hätte sich entsprechend erhöht und würde nicht jenem nach einem 4-monatigen SRK-Kurs entsprechen. Auch dass die Sekretärin aus BGE 147 III 249 nach 16 Jahren noch den gleichen Standard hätte, erscheint unrealistisch. Ob es bei durchschnittlichen Verhältnissen (nicht jenen „aussergewöhnlich guten Verhältnissen“, bei denen das Bundesgericht die einstufige Methode noch zulassen würde, BGE 147 III 265 E. 6.6) dann überhaupt noch einen Unterschied macht, ob ehelicher oder vorehelicher Lebensstandard der Massstab ist, ist fraglich.

  1. Dauer

Schliesslich ist der Unterhalt stets zu befristen. Wie lange, ist Ermessensfrage. Wenn Kinder aus der Ehe hervorgegangen sind und eine klassische Rollenteilung gelebt wurde, darf die Befristung bis zum AHV-Alter des Unterhaltspflichtigen dauern. Ansonsten gilt, dass selbst bei lebensprägender Ehe und ungenügender Selbstversorgungsfähigkeit die nacheheliche Solidarität irgendwann endet, sodass der Berechtigte wieder auf sich allein gestellt ist (BGE 147 III 249 E. 3.4.4).

Gleiches gilt bei der nicht lebensprägenden Ehe. Wie lange die Unterhaltszahlung zum vorehelichen Standard gerechtfertigt ist, sagt das Bundesgericht nicht. Im Entscheid BGE 147 III 249 musste es darüber nicht entscheiden, da der Ehemann bereits solange Unterhalt gezahlt hatte, wie die Ehe gedauert und er nach Ansicht des Bundesgerichts damit sein Soll erfüllt hatte.

  1. Fazit

Das Bundesgericht betont den Primat der Eigenverantwortung. Das ist in einer liberalen Gesellschaft auch korrekt. Allerdings eilen die bundesgerichtlichen Entscheide den heute aktuellen Gesellschaftsverhältnissen voraus. Nach wie vor leben viele Ehepaare eine eher klassische Rollenteilung mit Haupt- und Zuverdiener-Ehegatte. Haben sich zwei Personen gemeinsam dazu entschieden, eine Wirtschaftsgemeinschaft zu bilden und gegenseitig füreinander Verantwortung zu übernehmen, sind sie auf den Entscheid auch zu behaften. Dass das Bundesgericht nun den einen aufgrund des Inhalts des gemeinsamen Lebensplanes aus der Verantwortung entlässt, erscheint nicht als der Weisheit letzter Schluss. Lösen liesse sich dies mit einer realistischen Einschätzung der Eigenversorgungsfähigkeit. Höhe und Dauer des Unterhalts müssen angemessen und verhältnismässig sein. Unterhaltsleistungen so lange, wie die Ehe gedauert hat, ist wohl ein guter Anhaltspunkt, den das Bundesgericht liefert. Gespannt werden weitere Urteile dazu erwartet.

iusNet FamR 27.08.2021